Arm zu sein, ist keine schöne und interessante Sache, darüber sind sich alle Armen einig. Das ist verständlich, wer will schon gerne arm sein? Was interessant ist, ist das Reich Gottes zu besitzen. Aber nur die Armen besitzen es. (Madeleine Delbrêl, aus: Die Freude zu glauben).
Am 07. Januar 2019 ist es 175 Jahre her, seit Bernadette geboren wurde. Am 09. Januar wurde sie getauft und am 16. April gedenken wir Bernadettes 140. Todestag.
In Lourdes vergessen wir auch einen anderen Heiligen nicht: Benoît-Joseph Labre, den bettelnden Heiligen, den Patron der Pilger, Obdachlosen und der Hospitalité Notre Dame de Lourdes.
Wir haben nicht die Absicht, einen Lebensstil in den Himmel zu heben, der nur erlittenes Leid bedeutet oder eine besondere Gnade verkörpert. „Arm zu sein, ist nicht interessant…“
Wir wollen auch die Worte der Armen nicht idealisieren. Ihr Zeugnis ist für uns ein Echo des Evangeliums. Aber wir könnten in einer folgenlosen Bewunderung verharren, ohne innere Bekehrung oder Umkehr im Lebenswandel.
Wir wollen einen österlichen Weg einschlagen, dem alten Leben sterben, um das wahre Leben, das wahre Glück zu entdecken, so wie es Maria Bernadette aufgezeigt hat. Freilich man muss zuhören, man muss sich auch engagieren. Ein Pilger kann nicht genauso zurückkehren wie er gekommen ist. Das setzt voraus, dass er sich Schritt für Schritt loslöst, frei macht und sich zurücknimmt, um sich den Reichtümern der Gabe Gottes öffnen zu können. Bernadette wollte ihrer Familie keine Moralpredigt halten, als sie ihr diese Mahnung einschärfte: „Sie sollen sich nur nicht bereichern!“ Sie verweist und führt sie zum Glaubenshorizont, den sie selbst an der Grotte geschaut hatte. Es ist die Haltung jener andere Welt, die nur unser Ja braucht, um unsere Schutzhülle aufzubrechen, damit wir unser wahres Ich im Licht Gottes entfalten können.
Die materielle Armut bewegt heute die gesamte Menschheit. Spirituelle Armut bringt selbst Jugendliche dazu, den Tod zu wählen. Erlittenes Elend istdemütigend und entmenschlicht uns. Aber Reichtum, der das Teilen verweigert, führt uns zu Abstieg und Verderben. Das Evangelium verspricht keine gesellschaftliche Revolution, aber es fängt an, die Herzen zu revolutionieren. Der Herr macht sich zum Sklaven und wäscht die Füße der Ärmsten. Dabei geht es nicht nur um einen einfachen Rollentausch. Beide entdecken, dass sie Brüder sind, von ein und demselben Vater geliebt und vom selben Herzen belebt werden.
Lourdes hat von Anfang an diese Revolution der Herzen ausgelöst. Die „Reichen“ spannen sich vor die Tragbahren der Schwachen und nennen die Kranken „unsere Herren, die Kranken“. Aber wir wissen, dass wir in einer caritativen Organisation rasch dabei sind, unsere Rechte und Privilegien einzufordern. Lasst uns also nicht träumen, empfangen wir das Glück des uns zugesagten Reich Gottes, das uns schon in einer Begegnung mit unseren Mitmenschen, im Austausch eines Blickes und der Freude einer gehaltenen Hand geschenkt wird. Lasst uns verstehen, dass selbst, wenn wir es im Leben schwer haben, wir ein Recht auf diesen Teil des Glücks haben. Und dass dieses sich vermehren und wachsen kann, wenn wir uns einlassen in die Gnade, die von der Erscheinung Marias an Bernadette ausgeht. Diese Begegnung lässt uns den bedingungslosen Respekt jedes Menschen im Licht des Heiligen Geistes erleben, der seine Lebenskraft weitergeben will. Lasst uns also nicht träumen, lassen wir uns von der entdeckten Freude durchdringen, uns verwandeln, sodass wir diese Oasen der Barmherzigkeit entdecken, die die Kapelle sind, welche Maria erbeten hat, diese kleinen Familien und Bruderschaften, welche die Welt in uns und um uns verändern.
Wir hoffen, in Lourdes eine konkrete Geste gelebter Solidarität zeigen zu können, eine Geste, die uns dann in unserem Alltagsleben daheim beflügelt.
Der Weg der Bernadette, von Maria vorgezeichnet
Weg des Evangeliums, das den Armen selbst durch Elend, Böses und Schlamm verkündet wurde
Weg des Glücks, des Kostens von der Quelle, ein Glück, das es zu teilen gilt
Teilhabe, Kommunion am Leben Jesu selbst, der sich arm gemacht hat, um uns mit seiner Armut zu bereichern.
Armut und Reichtum von Bernadette
Bernadette hat persönlich oder indirekt alle Arten der Armut kennengelernt, sei diese körperlich, materiell, intellektuell oder sozial… . Sie stieß auf Unverständnis und Ablehnung.Sie hilft uns die Leere der Herzen derer zu verstehen und anzunehmen, die keinen Sinn mehr im Leben sehen und versucht sind, ihrem Leben ein Ende zu setzen: Die moralische und religiöse Leere so vieler, die „geistige Armut“.
Sie hat von einem doppelten Reichtum profitiert, der Liebe und dem Gebet in der Familie und später in der Ordensgemeinschaft. Dieses Glück hat sie mit den Armen teilen wollen: „Ich habe die Armen sehr gerne, ich pflege gerne die Kranken: Ich werde bei den Schwestern von Nevers bleiben.“
Bernadette hat das wahre Glück gekannt : „Oh nein, Bernadette, du bist nicht arm; du bist glücklich ,ja , glücklich!“ (Msgr Thibault)
Oft stellen wir uns die Frage nach dieser paradoxen Beziehung zwischen Armut und Glück. Helfen kann uns dabei der andere Heilige von Lourdes, der Patron der Hospitalité, Benoît-Joseph Labre, der Bettler-Heilige. Er wurde im Jahr 1881 heiliggesprochen, in einer Zeit, in der man dachte, der materielle und medizinische Fortschritt sei unaufhaltsam. Ein Menschenbild, gänzlich frei von Not, wurde zum Leitbild. Man empfand es als Skandal, dass ein armseliger Heiliger als Vorbild gezeigt wurde.
„Gott erwartet Sie anderswo“, mit diesen Worten wird Benoît Labre (1748-1783), ein aus Amettes (Pas-de-Calais) stammender Bauernsohn immer wieder für das Klosterleben abgelehnt. Mit 21 Jahren macht er sich also auf den Weg, von Wallfahrtsort zu Wallfahrtsort, mit Umhängetasche und Kruzifix um den Hals.
Er wird 30 000 Kilometer zurücklegen, und dabei nach Santiago de Compostella, nach Loreto und nach Rom kommen. Er hat sich auf den Weg gemacht um herauszufinden, was Gott von ihm erwartet und er hat verstanden – durch das Loslassen von weltlichen Dingen und die Gelassenheit, die in Gott gründet – , dass seine Berufung genau darin bestand, Pilger zu sein.
In Rom wohnte er im Bogen Nr. 43 des Kolosseums! Kurz vor Ostern 1783 fand man ihn unweit von dort leblos auf den Stufen der Kirche Madonna dei Monti. Ein Nachbar nahm ihn in sein Haus auf. Dort verstarb er mittwochs, am 16. April, wie Bernadette, gleichaltrig im Alter von 35 Jahren!
Er hätte seinen Platz nicht gegen alles Geld der Welt tauschen wollen, genauso wenig wie Mutter Teresa sich nicht mehr um den „Abfall der Menschheit“, dem sie diente, gekümmert hätte, nicht um alles Geld der Welt. Ganz gewiss, sie tat es aus Liebe zu Jesus! Das ist ein Mysterium, das es genauer zu erfassen gilt. „Dieser Arme, dem alles fehlt, scheint alles zu besitzen, was er gesucht hat und wir fragen ihn nach dem Geheimnis seiner Freude.“
Maria kennt dieses Geheimnis und teilt es. Sie ist gänzlich selbstlos, um ganz offen für die Gnade der sich selbst verschenkenden, gnadenhaften Gegenwart Gottes zu sein. Maria empfängt alles und behält nichts für sich selbst. Sie kehrt den Fluch der Armut um, indem sie aus ihr einen Ort macht, an dem Gott sich schenken kann. Er, der Diener, der fähig ist sich selbst zu erniedrigen, damit er die erreichen kann, die er liebt, hat sich in der Demut seiner Magd zu erkennen gegeben. Er begegnet ihr in ihrem tiefsten Innern und lebt in ihr die reine Freude des Gebens.
„Den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet“ (Lk 7, 22)
Das sind die letzten Worte der Antwort Jesu an die Boten Johannes des Täufers, die ihn zu seinem Auftrag befragen: „Bist du der, der kommen soll oder müssen wir auf einen anderen warten?“ Heilungen, selbst Auferweckungen gipfeln in der Gewissheit, dass die Armen von der Frohen Botschaft erreicht werden. Sie sind es, denen das Himmelreich gehört, denen das Herz Gottes gehört.
Das Geheimnis des Glücks liegt darin, und Bernadette zeigt uns dies auf, in Seinem Licht zu leben. Die Erscheinung in der Höhle der Grotte ermöglicht es ihr, den ersten Blick zu überwinden, der sich damit zufrieden gibt, den äußeren Anschein des Lebens zu sehen. Sie ist eine, die am Rand der Gesellschaft steht, noch nicht zur Schule gegangen ist und noch nicht ihre Erste Heilige Kommunion empfangen hat. Auf einmal interessiert sich jemand für sie und nimmt durch diese Begegnung ihr eigentliches Ich wahr, so wie der Vater sie betrachtet: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“ Die Erscheinung war ein junges Mädchen „genauso jung und genauso klein wie ich“ und sie sagte „Sie“ zu mir.“
Bernadette existiert für jemanden. Ihr einfaches Leben, das aus Armut und Liebe besteht, erlaubt ihr, ein Glück zu erleben, das imstande ist, das Interesse des Himmels zu erwecken. In der Tiefe einer dunklen Grotte, selbst am Boden im Cachot hört und sieht sie. Sie kann nicht mehr sagen, sie habe weder gesehen noch gehört. Sie macht die Erfahrung der ersten Apostel, den Zeugen des Neuen Lebens des Auferstandenen (Apg 4, 20).
„Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden“ (Apg 5, 41). Die Verhöre, selbst das Gefängnis, können Bernadette nicht mehr erschrecken, so wenig wie sie den Aposteln Angst machten, die kurz zuvor noch imstande waren zu verleugnen, zu verzagen oder zu verraten. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Ga 2, 20). Die Frohe Botschaft beruht nicht auf einer angeeigneten Überzeugung, sondern auf der Erfahrung einer mir gegenwärtigen Gemeinschaft, die „die mir näher ist als ich mir selbst“.
Bernadette bleibt sie selbst und profitiert von keinerlei Sonderbehandlung. Sie wird leicht als „kleines Dummchen“ oder als „zu nichts zu gebrauchen“ bezeichnet. Das belastet ihr Vertrauen keineswegs. Sie wird eingestehen: „Weil ich die Unwissendste war, hat mich die Heilige Jungfrau auserwählt.“ Sie nahm die Beschreibung ihrer Person, die die Ordensoberin gegenüber dem Bischof von Nevers im Augenblick ihrer Aussendung nach dem Noviziat machte, gelassen auf: „Wir werden Schwester Marie-Bernarde im Mutterhaus behalten und sie sollte das nicht als Privileg auffassen … und Bernadette erkennt dies gerne an: „Ich hatte es Ihnen ja gesagt, Exzellenz, ich bin zu nichts nutze!“
„Ja, Fräulein, Bernadette ist nur das“ kann sie einer neuen Schwester antworten, die erstaunt ist, als sie sie sieht. „Es gab so viele junge Schwestern vor denen ich eher auf die Knie gegangen wäre als vor Bernadette.“ Die Heiligkeit hat kein besonderes äußeres Erscheinungsmerkmal. Man muss das Herz sehen und in der Lage sein, das eigene Herz zu öffnen.
Man muss sich der Glückseligkeit Gottes öffnen, dessen Freude darin besteht, seinem Geschöpf Erfüllung zu schenken. Der es sucht, wenn es sich verirrt hat, um ihm seinen Lebensodem, sein Leben mitzuteilen. So erkennt er die Seele des Armen, die ganz auf den ausgerichtet ist, von dem sie abhängt. Gott zeigt sich, indem er sich schenkt. „Was würden Sie tun,“ fragte der Beichtvater Benoît-Joseph, um ihn auf die Probe zu stellen, „was würden Sie tun, wenn ein Engel Ihnen verkünden würde, dass Sie verdammt sind? – Ich würde immer noch auf Seine Barmherzigkeit vertrauen.“ Vertrauen auf Gott, der nur lieben und sich schenken kann, ein Vertrauen, das mit den Armen geteilt wird, in ihrem Bedürfnis geliebt zu werden. Der Glaube und die Liebe kommen im gleichen Akt, in gleicher Wahrheit zusammen. Folglich leben wir die größte Pilgerschaft, welche die Furcht überwindet und zur Liebe führt. Gott ist mein Vater, Jesus ist mein Bruder, der im Geringsten sichtbar wird.
Bernadette wird ihr Glück und ihre Berufung im Dienst an den Ärmsten finden. So entscheidet sie sich, in die Ordensgemeinschaft der Schwestern der Nächstenliebe von Nevers einzutreten. Sie versteht, dass der Herr, der sie ergriffen hat, sich ihr jetzt in der Person der Ärmsten zeigt. „Je abstoßender ein Armer ist, desto mehr muss man ihn lieben.“ Das ist das Glück der anderen Welt, das in der Lage ist, die äußerliche Hässlichkeit durch einen Akt der Liebe zu verwandeln.
„Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen“ (Jer 1, 7)
„Selbst wenn wir arm sind, können wir einen Auftrag erhalten und zu Dienern des Evangeliums werden.“ Das ist die Überzeugung der Siloe-Wallfahrt nach Rom, die von Pater Joseph Wrésinski ins Leben gerufen wurde. Und der Papst hat diesen Armen einen Auftrag erteilt: „Und abschließend möchte ich euch um einen Gefallen bitten. Oder vielmehr möchte ich euch einen Auftrag erteilen: einen Auftrag, den nur ihr in eurer Armut erfüllen könnt. Was ich damit meine, ist folgendes: Manchmal war Jesus sehr streng und hat Menschen, die die Botschaft des Vaters nicht angenommen haben, streng zurechtgewiesen. Und so wie er zu den Armen, den Hungernden, den Trauernden, zu jenen, die gehasst und verfolgt werden, das schöne Wort »selig « gesagt hat, so hat er auch ein anderes Wort gesagt, das – wenn er es sagt – Angst macht! Er hat gesagt: »Weh euch!« Und er hat es zu den Reichen, den Satten gesagt, zu jenen, die jetzt lachen, zu jenen, die sich gern schmeicheln lassen (vgl. Lk 6,24-26), zu den Heuchlern (vgl. Mt 23,15ff).Ich gebe euch den Auftrag, für sie zu beten, auf dass der Herr ihr Herz verwandeln möge.“ (06. Juli 2016)
Bernadette wird nicht nur mit einer respektvollen Aufmerksamkeit betrachtet, sie erhält den Auftrag, den Priestern eine „Nachricht“ zu überbringen, ähnlich wie die Frauen am leeren Grab vom auferstandenen Jesus zu den Aposteln geschickt wurden. „Gehen Sie und sagen Sie den Priestern, man solle hier eine Kapelle bauen und hierher in Prozession kommen“. Frauen eröffnen die Baustelle zum Aufbau der Kirche und wecken über die Jahrhunderte hinweg die eingeschlafenen Männer, sie sind die Hüterinnen der Kraft des Lebens, immer zum Aufbruch bereit.
Mission ist keine Propaganda, sondern ein „Zur-Welt-bringen“.. Die Armen haben nichts zu geben, nur ihr eigenes Leben zum Teilen. Und die Begegnung mit den Armen kann uns dabei helfen, die spirituelle Leere, die viele heute verspüren, zu überwinden. „Wenn du trauerst, dann finde jemanden, der Trost braucht.“ So entfacht Mutter Teresa neuen Elan in müde gewordenen Herzen. Und Abbé Pierre gewinnt das erste Mitglied der Emmaus- Einrichtung, indem er einen Jugendlichen, der sich das Leben nehmen wollte, darum bittet, ihm zu helfen, eine Matratze zu einem Armen zu tragen.
„Seht das Wunder der Armut! Ja, die Reichen waren Fremde, aber der Dienst der Armen hat ihnen eine Heimat gegeben!“ (Bossuet, Predigt zum 2. Fastensonntag). Die Wallfahrten haben sich von dem Moment an, an dem sie begannen hilfsbedürftige Personen mitzunehmen, ein unvorstellbares Wachstum erfahren. Nicht nur der Dienst, bereits die einfache Begegnung mit einem Menschen, der ärmer ist als man selbst, öffnet den Blick und das Herz für etwas, das über die äußere Erscheinung hinausgeht und erweckt eine Freude durch die Begegnung der Herzen.
„Du weißt nichts, aber du verstehst alles.“ (Wort ihres Beichtvater, Abbé Pomian an Bernadette). Es reicht nicht arm zu sein, aber es ist notwendig: „Das Leben der Reichen ist voll von Hindernissen, daher gehen sie unter“ (vom Hörensagen unter Obdachlosen).
„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast.“ (Mt 11; Lk 10) Die „Unmündigen“ verstehen intuitiv das Evangelium. Wir können bei der Vorbereitung unserer Wallfahrt auch bedürftige Menschen mit einbeziehen. Die französische Organisation Réseau St-Laurent (Netzwerk St. Laurentius) kann eine Textvorlage, die auf einer Meditation zum Lukasevangelium Kapitel 6 aufbaut, für dieses Vorhaben zur Verfügung stellen. (Anhang 1)
Maria hat für uns Bernadette den Hinweis auf den Weg zum wahren Glück anvertraut. Sie war vor allen Dingen in der Lage, den Sündern die Liebe, mit der sie geliebt werden, aufzuzeigen. „Da Sie ein Sünder sind, werde ich Ihnen das Lächeln der Heiligen Jungfrau nachmachen.“ Es geht nicht nur darum liebenswert zu sein, sondern die Herausforderung dieser Begegnung zu verstehen. Jesus hat gesagt: „Selig die Armen“, und fügt bei Lukas im Anschluss hinzu: „Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern“! Bei Matthäus beginnt die Predigttätigkeit Jesu mit den Seligpreisungen und schließt im 23. Kapitel mit einer Reihe von „Wehe-Rufen“, die sich gegen „heuchlerische Schriftgelehrten und Pharisäer“ richten, ab!
Maria führt Bernadette in diese Entscheidung zwischen Leben oder Tod, zwischen Seligpreisung und Verwünschung ein. „Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“ (Dtn 30, 19). Maria bedient sich einer mütterlichen Pädagogik, die Bernadette dazu brachte, sich zu wünschen „arm zu bleiben“, um an der Glückseligkeit Gottes teilzuhaben.
„Eine arme Kirche für die Armen“, das ist der große Wunsch von Papst Franziskus, denn sie zeugt so von einem anderen Reichtum, den nur die Armen kennen können. Unsere Armut zu teilen – das kann uns wirklich bereichern! Vor allem müssen wir dieses Teilen annehmen und es nicht als Subunternehmen der Bruderschaft überlassen!
Und lasst uns auch akzeptieren, dass wir zuallererst Teil dieser Armen sind, die Hilfe benötigen, die geliebt werden wollen. Wir existieren als eine Frucht der Barmherzigkeit.
Als Bernadette das schlammige, schmutzige Wasser zu ihren Lippen führt, ist es als akzeptiere sie, an der Not der Welt teilzuhaben, als würde sie diese Not annehmen. Natürlich mit dem Wissen, dass das hervorquellende Wasser von Gott kommt und dass sie dank Gott ohne Furcht das zum Mund führen kann, was doch so schmutzig ist. (Pater Etienne Grieu, Dienen wir der Brüderlichkeit). Von da an kommt es zu Heilungen.
2019 können wir uns in Lourdes die von der Versammlung der Diakonie eingeführte Geste zu eigen machen: unsere Hände in den Schlamm eintauchen und dann gemeinsam zur Grotte gehen und sich im Wasser der Grotte waschen. Sich von der Not der Welt durchdringen lassen, unsere eigene Not anzuerkennen und sich so gegenseitig reinigen zu lassen. Eine Geste, die uns dabei helfen kann, die Beichte und ihre gemeinschaftliche Dimension zu verstehen.
„Du bist der Arme, Herr Jesus!“
Bernadette ist glücklich und wir mit ihr in der Welt Jesu, der Welt Gottes. Die Ostkirche sagt uns: „Unsere Soziallehre ist die Dreifaltigkeit!“ Jeder Mensch gibt sich ganz dem Anderen hin und empfängt sich vom Anderen. Wir werden durch die Barmherzigkeit neu geboren. Wir sind eingepfropft in die Sohnschaft Jesu, die sich ewig neu aus der Liebe des Vaters empfängt. Er ist der Arme, der empfängt und danksagt.
Damit wird der Christ durch seine Taufe zu diesem Kind, das sich nicht selbst schafft, sondern mit Dankbarkeit das Leben empfängt, das ihm anvertraut wurde. Er ist jener Arme, der von der Gabe, die ihm geschenkt ist, abhängt. Der Christ betrachtet und imitiert Jesus, den Erstgeborenen. Der Stand der Kindschaft, der Stand der Armut ist nicht in erster Linie eine biologische oder gesellschaftliche Realität, sondern eine Gabe und ein Ruf des Geistes. Papst Franziskus verdeutlicht dies in seiner Botschaft zum 1. Welttag der Armen: Vergessen wir nicht, dass für die Jünger Christi die Armut vor allem in der Berufung besteht, dem armen Christus nachzufolgen. Sie ist der Weg, auf dem wir ihm nachfolgen und auf dem wir mit ihm unterwegs sind, ein Weg, der zur Seligkeit des Himmelreiches führt (vgl. Mt 5,3;Lk 6,20)
„Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ (2 Kor 8, 9).
Der Papst führt diesen Gedanken in seiner Predigt bei einem Treffen am 19. November 2017 fort: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Diese von ihm bevorzugten geringsten Brüder sind der Hungernde und der Kranke, der Fremde und der Gefangene, der Arme und der Verlassene, der hilflos Leidende und der Ablehnung erfahrene Bedürftige. Auf ihren Gesichtern können wir uns sein Angesicht eingezeichnet vorstellen. Aus ihren, wenn auch vom Schmerz verschlossenen Lippen, können wir seine Worte vernehmen: Das „ist mein Leib“ (Mt 26,26). In den Armen klopft Jesus dürstend nach unserer Liebe an die Tür unseres Herzens. Wenn wir die Gleichgültigkeit besiegen und uns im Namen Jesu für seine Brüder und Schwestern einsetzen, sind wir seine guten und treuen Freunde, bei denen er gerne verweilt.
Dort in den Armen zeigt sich die Gegenwart Jesu, der reich war und unseretwegen arm wurde (vgl. 2 Kor 8,9). Deswegen liegt in ihnen, in ihrer Schwäche, eine „Heilkraft“. Und auch wenn sie in den Augen der Welt wenig Ansehen genießen, so sind sie doch die, die uns den Weg zum Himmel öffnen, sie sind unser „Reisepass für das Paradies“. Es ist für uns eine dem Evangelium gemäße Pflicht, uns ihrer anzunehmen, die unser wahrer Reichtum sind – und das nicht nur, indem wir ihnen Brot geben, sondern auch dadurch, dass wir mit ihnen das Brot des Wortes teilen, dessen natürlichste Empfänger sie sind. Den Armen zu lieben heißt, gegen alle Armut zu kämpfen, sowohl gegen die geistigen als auch gegen die materiellen Nöte.
Jesus ist der Retter, er will den Menschen in seiner Ganzheit erreichen, im tiefsten Innern seines Herzens, dem Zentrum, von dem aus jedes Schöpfungswerk wieder möglich wird. Die Heilungen sind nur Hinweise einer so viel größeren Gabe, die den Verzicht zur Selbstgenügsamkeit hervorruft. Die Geringsten, von denen wir ein Teil sind, brauchen Glauben, Hoffnung und Liebe. Hören wir nochmals, was Madeleine Delbrêl zu sagen hat: „Wir haben den Glauben der Geringsten vergessen. Die Geringsten wurden allein gelassen, allein mit dem Wachstum ihres menschlichen Geistes, allein in einer Welt, in der mit Halbwahrheiten Lügen für sie aufgebaut wurden. Der Kapitalismus hat sein Proletariat, aber die Wahrheit hat das Ihre.“
„Diese Intelligenz, die ausschließlich utilitaristisch geworden ist und das nur für eine begrenzte Definition des Glücks, bezeichne ich als geistige Not.“ Die einzige Frage, die uns allzu oft interessiert, ist: „Wozu soll das gut sein?“ Wir haben die Verbindung zwischen Wohltätigkeit und Mystik durchtrennt. In den Lumpen eines Bettlers oder auf dem Gesicht eines kranken Kindes können wir die Freude wiederfinden. Nur diese Freude macht es uns möglich, uns für einen Dienst zu engagieren.
Gott ist unendlich realistischer als die besten menschlichen Entwürfe gegen alles Aufgeben und alle Lügen, unter denen die Armen so leiden. Unsere Nächstenliebe darf sich niemals in Programmen verlieren, die sich auf das Nützliche beschränken, noch darf die Armut nur auf einige Arten der Armut beschränkt werden! In diesen Bereichen Fortschritte zu machen geht mit einem Bewusstwerden der eigenen Armut einher und noch grundlegender verlangt dies nach einer lebensnotwendig gewordenen Verbindung zu Christus, einem Herzen, das den Geringsten unserer Mitmenschen am nächsten steht.
Er hat mit uns den Bund geschlossen
Unsere Armut ist unser Reichtum, unser Bedürfnis und unsere Freude über die Beziehung zum Nächsten. Auf den Spuren Mariens und Bernadettes schenkt uns eine gemeinsame Wallfahrt eine solche Erfahrung: „Ich bin betrübt, aber ich bin glücklich. Weil man anerkannt wird, sich austauschen, sein Leiden mit anderen teilen kann. Man sieht die Freude in den Augen der Anderen“ (Die Freude, S. 9) Wenn man sich gemeinsam von Christus betrachten lässt, wird man so arm wie er, ein Bettler um die Liebe des Vaters, vereint in der Danksagung für das empfangene Leben. Der Dienst der Armen ist somit ein geschwisterliches Teilen des Lebens unseres Bruders Jesus, des Erstgeborenen selbst. Unsere Existenz wird zum Ort der neuen Allianz zwischen Gott und dem Menschen in Christus.
„Ich habe keine Lust arm zu sein, ich habe Lust ER zu sein“ (eine Karmelitin).